Sinn und Anwendung des „Viseur“


„Denn, um es endlich und auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist  nur da ganz Mensch wo er spielt. „Es gehört also zu den wichtigsten Aufgaben der Kultur, den Menschen auch schon in seinem bloss physischen Leben der Form zu unterwerfen und ihn, soweit des Reich der Schönheit nur immer reichen kann, ästhetisch zu machen, weil nur aus dem ästhetischen, nicht aber aus dem physischen Zustand der moralische sich entwickeln kann.“

Friedrich Schiller, der dies in einem Brief vom 31. August 1794 an Goethe schrieb, war überzeugt, dass Schönheit die entscheidende Bedingung voller Menschlichkeit ist, und dass ohne Schönheit jeder Ansatz einer Reform zum  Scheitern verurteilt ist.

Beim Viseur, der 1993 für den pädagogischen Unterricht im Espace de l’Art Concret entwickelt wurde, geht es im Prinzip um Spiel und Schönheit. Der spielende Mensch spielt auch, weil er auf der Suche nach dem Besseren ist. Der spielende Mensch versucht im Spiel, seinen Träumen Form zu geben. Ein Mensch, der wirklich spielt, für den das Spiel eine existentielle Notwendigkeit ist, wird sein physisches und psychisches Dasein in Harmonie erleben. Körper und Seele werden im Spiel eins, werden zur Ganzheit. Sein Bewusstsein wird gestärkt. Der Viseur ist ein Spiel, um das Sehen zu lernen. Schauen heisst nicht sehen. Untersuchungen haben gezeigt, dass nur 10% dessen, was im Hirn passiert, verbale Prozesse sind. Ein Grossteil vom Rest sind Bilder, visuelle Assoziationen. Bilder sind die Brücke zwischen den Vorgängen, zu denen wir den Zugang nicht kennen, und dem Bewusstsein. Ganzheitliche Prozesse können deshalb am besten in Bildern erfasst werden, weil sie Gleichzeitigkeit beinhalten.

Der Inhalt des Viseurs sind Urformen und Urfarben. Es geht darum, dass das Kind, dass der spielende Mensch eine Beziehung bekommt zu den Urformen, zu den Grundfarben alles Visuellen. Mit Kreis, Quadrat und Dreieck, mit blau, gelb, rot und grün kann man die Augen an die reine Form gewöhnen, kann man die Augen lehren, mit dem Grundsätzlichen, mit dem Alphabet alles Visuellen zu spielen. Man kann diese Formen auf dem Tisch oder auf dem Boden zusammenstellen, man kann sie aber auch im Freien, im Dialog mit der Natur, lustvoll und mit Phantasie zu einem Gebilde vereinen. Es braucht weder ein spezifisches Talent, noch eine aussergewöhnliche Begabung. Es ist ein Spiel für jedermann, jede Frau, für Kinder, Erwachsene, Behinderte, Nichtbehinderte und Menschen jeden Alters. Der Viseur ist ein Spiel ohne Regeln, ohne Vorschriften.

Dazu Gottfried Honegger: „Der Viseur öffnet unsere Phantasie, das visuelle Paradies. Der Viseur füllt unsere Einsamkeit mit Sinn. Der Viseur ist Kommunikation, ist eine Form von Kontemplation. Der Viseur ist eine Quelle zur Poesie, zum Musischen hin. Der Viseur fördert die Bildung. Der Viseur lehrt uns das Sehen.“

Der Viseur wird seit mehr als 20 Jahren in den Kinderateliers des Espace de l’Art Concret in Mouans-Sartoux, Côte d’Azur mit Erfolg eingesetzt. Der Espace de l’Art Concret (EAC) wurde für seinen Kulturbeitrag von der Europäischen Kulturstiftung Pro Europa 2008 dafür ausgezeichnet. Die Stiftung für kunsttherapeutische Pädagogik (heute FONDATION GOTTFRIED HONEGGER) hat diese Spiele produziert und weltweit mehr als 5000 Viseure an Kindergärten, Altersheime, Kunsttherapeuten/innen, Pädagogen/innen, Behindertenorganisationen und Hilfswerke verschenkt. Die FONDATION GOTTFRIED HONEGGER tut dies weiterhin und ist dafür permanent auf Fundraising, Spenden, Sponsoring und finanzielle Unterstützung angewiesen.